Das ist Lycinda!
Darf ich vorstellen: Das ist Lycinda. Sie ist Anwältin für unser Inneres.
Lycinda trägt ihr pechschwarzes Haar mit einem schnurgeraden Pony. Ihre Lieblingsfarbe ist lila, weil der so schön zu ihrem Namen Lycinda passt und sie liebt ihren Namen, der so zart wie ihre Hautfarbe ist: Rosafarben.
Heute trägt sie zu ihrem lilafarbenen Kleid ihre Froschschuhe. Die trägt
sie am liebsten, weil die beiden Frösche - sie hat ihnen aus
Vergesslichkeit immer noch keinen Namen gegeben und nennt sie solange
linker und rechter Frosch - immer so schöne Kommentare abgeben zu allem,
was sie sehen. Der rechte Frosch ist ein bischen frecher als der andere
und spricht meist aus, was ihm in den Kopf kommt, er hat auf alles eine
Antwort parat und ist die pure Vernunft. Der linke Frosch ist
zurückhaltender und wenn er spricht, dann über seine Gefühle.
In ihrer Lieblingstasche sitzt die Lieblingskatze von Lycinda: Sie ist
weiß und hört auf den Namen Ruby. Ruby hatte einen Unfall mit einem
Vogel vor drei Jahren. Alle Katzen sagten damals zu ihr: "Katzen fressen
Vögel. Du musst auch einen Vogel fressen, um eine richtige Katze zu
sein!" Also machte sie sich auf den Weg in einen Baum, um einen Vogel zu
fressen. Auf einem Ast sah sie einen Vogel, der so schön war, dass sie
sich in ihn verliebte. Die anderen Katzen riefen von unten: "Friss ihn,
friss ihn, mach schon, mach schon!", doch sie konnte ihm nichts zu leide
tun. "Zilp" rief der Vogel. "Oh ist das schön", flüsterte die kleine
Katze, "ist das schön." Sie konnte dieses wunderschöne Tier nicht
fressen und stieg wieder vom Baum hinab, wo sie von den anderen Katzen
übel beschimpft und ausgelacht wurde. "Da ist doch gar keine richtige
Katze", raunzten die anderen Katzen und "Mit der will ich nichts mehr zu
tun haben." "Schwächling." "Weichei." "Hosenkacker." "Vogelscheuche."
"Vogelliebhaberin!" "Körnerfresser!" Laut hallten ihr die Schimpfworte
ihrer falschen Freunde nach und Ruby beschloss von dem Moment an, nie
wieder so zu sein wie eine richtige Katze zu sein hat. Seit dem Miaut
sie nicht mehr, sondern sie ruft: "Zilp". Am gleichen Tag noch lief sie
Lycinda vor die Füße, die sich über diese Katze wunderte, die "Zilp"
rief. Lycinda fragte sie nach ihrer Geschichte und sie verliebte sich in
Ruby, die keine Katze mehr sein wollte. Fortan lebte Ruby bei Lycinda.
Die Anwältin fand, dass eine Katze, die so ungewöhnlich der Stimme ihres
Herzens gefolgt war, sehr gut zu ihr passte.
Auf Lycindas Nase sitzt eine große, sehr dicke Brille. Auch wenn sie
deswegen ein wenig anders ausschaut als andere und der Arzt ihr schon
viele Male Kontaktlinsen angeboten hat, will Lycinda ihre dicke,
lilafarbene Brille weiterhin tragen. "Ich kann damit ganz genau
hinschauen. Die Brillengläser sind wie ein Vergrößerungsglas für mich
und ich kann Dinge sehen, die andere nicht sehen können. Und ich kann
die Brille ganz leicht absetzen und habe so einen herrlichen Weitblick
und eine Übersicht, wenn ich das haben möchte. Es ist so einfach. Und
außerdem will ich nicht aussehen wie jeder andere. Ich brauche meine
lilafarbene, dicke Brille. Ich finde mich schön mit ihr!" Seitdem hat
der Brillenverkäufer nichts mehr gesagt und auch der Augenarzt
akzeptiert ihre Liebe zu ihrer dicken Brille.
Lycinda hat immer Süßigkeiten dabei. Sie trägt immer - und ich meine
immer und jederzeit - auch im Bett, auf dem Klo, auf der Straße, bei
ihrer Arbeit - einen großen Loli, der lila-rosa Funken sprüht. Ja, Loli
mit einem "l" - er heißt Loli, nicht Lolli, denn es ist kein normaler
Lolli. Wenn sie die rechte Hand mal braucht, mit der sie ihn trägt, dann
lässt sie ihn los und Loli bleibt in der Luft stehen. Praktisch, oder?
Ob Loli gut schmeckt? Oh, er schmeckt köstlich, aber wenn man ihn
aufisst, kann er keine Süßigkeiten mehr machen. Lycinda braucht nur an
etwas Süßes zu denken und *Pling* ist sie da: Schokolade, Eis, Kaugummi,
Salzlakritze, Zuckerwatte, Nougat, Sahnebonbons, Liebesperlen, alles was
man sich wünschen kann. Loli kann aber nicht nur Süßigkeiten zaubern, er
kann Lycinda auch unsichtbar machen. Denn in ihrer Arbeit als Anwältin
ist sie meist unsichtbar für die anderen. Nur für ihre Klientin nicht.
Du vermutest richtig: Lycinda ist keine gewöhnliche Anwältin. Lycinda ist Fachanwältin für Innere Kinder. Jeder der Anwalt oder Anwältin für ein Inneres Kind wird, vertritt sein Leben lang nur einen Mandanten oder eine Mandantin: Das Innere Kind eines Menschen. Sie sorgt dafür, dass der meist erwachsene Mensch, in dem das Innere Kind wohnt, nicht einfach seine Bedürfnisse oder seine Gefühle übergeht. Sie interessiert sich nicht für die Gegenseite, hat nur Verständnis für den, den sie vertritt. Sie hilft ihrem Mandanten dabei, für sich einzustehen, sie ist Ermutigerin, Unterstützerin, Taschentuchreicherin, Schokoladenproduzentin, Liebhalterin. Sie wiegt das Innere Kind in den Schlaf, nimmt ihm die Angst, erklärt, was weder das Kind noch der Erwachsene versteht. Denn der Erwachsene, in dem das Innere Kind lebt, ist zwar groß und stark, aber viele Erinnerungen und Erfahrungen in ihm lassen ihn noch ein Kind sein, das Angst hat, das sich klein fühlt und unwichtig. Es braucht eine Anwältin, die es begleitet, bis das Innere Kind es irgendwann immer seltener braucht. Doch selbst wenn der Erwachsene schon 90 Jahre alt ist, haben die Anwälte eine Aufgabe: Nämlich den Erwachsenen daran erinnern, dass es da ein Inneres Kind gibt, das spielen möchte, das Quatsch machen möchte, das faul sein will und unvernünftig. Ja, du siehst: Es gibt für Lycinda und ihre Kolleginnen und Kollegen ein Leben lang Arbeit und eine Aufgabe.
Ob du auch so eine Anwältin für dein Inneres Kind hast oder einen
Anwalt? Natürlich! Jeder hat das. Allerdings schlafen die meisten
Anwälte lange lange Zeit im Verborgenen. Manchmal entdecken die
Erwachsenen ihr Inneres Kind und sprechen mit ihm, schenken ihm
Aufmerksamkeit, das klappt auch meist ganz gut. Aber immer dann, wenn es
schwer wird, wenn Hürden zu überwinden sind, dann braucht man die
Anwältin, die einem gut zuredet und die die Hand hält, während man durch
den dunklen Wald geht. Lycinda und ihre Kollegen sind auch da, wenn es
darum geht, dass der Erwachsene lernt, für sich einzustehen, sich selbst
etwas Gutes zu tun, sich okay zu finden und zu lieben, etwas das ihm
sehr sehr schwer fällt. Dann machen die Anwälte Mut.
Übrigens sind Anwälte fürs Innere Kind dem Kind NIE böse, sie haben IMMER Verständnis für das Kind, stehen ihm egal was ist zur Seite. Sie hören immer zu, haben immer Zeit, sind Weltmeister im Loben und Komplimente machen, können wunderbar trösten und lachen und zum Faulsein animieren. In 99.999% der Fälle lassen sie fünfe gerade sein und JEDE Ausrede gelten, warum man etwas nicht machen kann. Sie denken NIE an Karies, sondern immer nur an den leckeren Geschmack. Sie schimpfen nicht und lassen uns so lange Fernseh schauen wie wir möchten, weil sie wissen, dass wir einschlafen, wenn wir müde sind. ABER sobald sie merken, dass es uns nicht gut geht, beginnen sie sofort mit ihrer Arbeit: Brille auf und dann nehmen sie das Innere Kind in Augenschein, sprechen mit ihm, erklären, fragen, hören zu, schützen, pusten bei einem Aua. Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen, erklären, warum irgendwas jetzt nicht geht und dass manches im Leben auch wehtut, zum Beispiel wenn man gut für sich selbst sorgt, aber anderen dafür auf die Füße treten muss und das wehtut. Und dass es manchmal genau umgekehrt ist.
Das ist Lycinda. Ich kenne sie seit einigen Tagen. Seit dem ist sie da und hilft mir. Das ist so wunderbar!
Anja Kolberg
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Thema: Blog - 2009, 2. Halbjahr, Blog - Inneres Kind, Blog - Lieblingsartikel

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