Eine zweite Chance

Hallo da draußen in der Welt,

während ich diesen Text in meine Tastatur tippe, scheint Sonne auf den Bildschirm. Vogelgezwitscher dringt durch das offene Fenster und wechselt sich mit dem Geräusch vorbeifahrender Wagen ab. Unser Stadtteil wird um halb acht munter.

Wie oft habe ich über den Titel nachgedacht: Eine zweite Chance.

Mehr als ein Jahr lang hüpft er und das Thema, um das es geht, immer mal wieder durch meinen Kopf. Ich wollte ihn auch schon auf die Kalenderblätter bringen. Jetzt wird er erst mal zum Blogbeitrag. Um das geht es mir:

Eine zweite Chance zu bekommen und selbst zu geben. Kennen Sie die Situation, wenn Sie etwas gesagt haben und den Eindruck haben, das ist nicht so beim Gegenüber angekommen, wie Sie es gemeint haben? Das Gesicht wird verzogen, der Blick geht nach unten, es tritt Stille ein ... und das in einer Situation, wo es nicht ohne weiteres möglich ist, aufklärerisch tätig zu werden, also zu erklären, wie Sie das gemeint haben. Ich kenne solche Situationen. Und sie sind mir unangenehm. Ich weiß nicht, wie das, was ich sagte, bei meinem Gegenüber wirklich ankommt. Bilde ich mir nur ein, dass der andere es anders als ich es meinte aufgefasst hat? Warum habe ich es nicht gleich klar gestellt? Seufz.

Ich würde mir nicht rausnehmen, jemanden bewusst zu beleidigen oder zu kränken. Aber bei der Kommunikation gibt es ein Hindernis: Das, was ich sage kann sich von dem unterscheiden, was vom anderen aufgenommen wird. Also, wenn ich etwas nicht böse, beleidigend meine, kann es aber doch so beim anderen ankommen. Warum? Weil der andere seine Filter aktiv hat. Mit Filter meine ich persönliche Erfahrungen, Erlebnisse, Wertungen über sich selbst und andere, die dann wirken. Und die sorgen dafür, dass Worte eine Färbung bekommen, die so gar nicht gemeint war.

Diese Filter habe ich auch. Und durch die müssen Sätze von anderen auch durch. Es gibt Menschen, über dessen Äußerungen rege ich mich maßlos auf. Weil ich meine, sie wollen mir was. Dabei weiß ich das neutral betrachtet gar nicht. Ich vermute es. Weil ich einen wunden Punkt habe und sie haben sich vielleicht auf diesen wunden Punkt unbewusst bezogen. Sie kennen meine wunden Punkte ja gar nicht. Und was passiert? BÄM! Bin ich beleidigt, ziehe mich in mein Schneckenhaus zurück. Wie kann derjenige blos so was sagen? Unverschämt! Ganze Arbeit haben meine inneren Bewertungen geleistet. Würde ich das alles beiseite lassen, die Filter, meine eigene Befindlichkeit - die ja nicht jeden Tag gleich stabil und gelassen ist, meine Interpretationen, der andere mag mich mich, dann sind da nur ein paar Worte. Ja, der Ton spielt auch eine Rolle, dennoch. Ich kann es neutral betrachten. Vielleicht ist es dann gar nicht so schlimm.

Umgekehrt als diejenige, die etwas sagt: Ich habe auch schon Tage gehabt, da war ich ganz mies drauf und wenn ich dann was sage, ist es sicherlich nicht so freundlich oder bedacht wie an Tagen, wo ich super drauf bin. Dann hätte ich garantiert etwas anderes gesagt. Das hat aber nichts mit dem Wert meines Gegenübers zu tun. Der bleibt gleich hoch. Nur meine Reaktion ist eine andere.

Und für solche Situationen wünsche ich mir zweite Chancen.

Eine zweite Chance für den Menschen, dem ich unterstelle, mir was zu wollen, weil er ja das oder das gesagt hat. Meint er es wirklich so wie ich vermute? Könnte es nicht auch anders sein? Könnte ich nicht auch - wenn ich mich traue - nachfragen, wie der andere das gemeint hat? Vielleicht werde ich über dessen Wertschätzung mir gegenüber erstaunt sein.

Eine zweite Chance für mich, wenn ich das Gefühl habe, meine Worte haben einen anderen Menschen getroffen, gepaart mit meinem Unvermögen, darauf einzugehen, weil ich selbst über dessen Reaktion erschrocken bin und mich schäme, vielleicht etwas "falsches" gesagt zu haben. Wie herrlich wäre der Glauben des anderen an mich, dass ich ihm nichts böses will, sondern es wirklich gut mit ihm meine.

Sie kennen vielleicht den Satz: "Ich bin verantwortlich für das, was ich sage. Nicht für das, was du daraus machst." Er hilft mir, nicht zu viel Verantwortung für das Wohlbefinden anderern Menschen zu übernehmen, wozu ich neige.

Was ich aber auch gelernt habe, ist die Möglichkeit, dass ich das, was für mich selbstverständlich ist, auch noch dazu sagen kann. Zum Beispiel dass mir die Meinung eines anderen wichtig ist und ich deswegen wissen möchte, was er von meinem Projekt hält. Oder dass ich wenn ich gewusst hätte, jemand ist im Besprechungsraum, dort niemals rein gegangen wäre. Für mich selbstverständlich. Würde ich nicht. Das weiß der andere aber in der Regel nicht, er kennt mich vielleicht gar nicht so gut und hat schon negative Erfahrungen gemacht. Deswegen ist es wichtig, für mich selbstverständliches zu erklären. Bis der andere mich wirklich kennt. Bis er mir vertraut und weiß, dass ich ihn wirklich mag.

Das ist etwas, das ich lernen möchte: Für mich selbstverständliches sagen. Weil ich mich so selbst erkläre und zwischen mir und meinem Gesprächspartner eine Brücke der Liebe und des Verständnis baue.

Einen Strich ziehen unter all den Mutmassungen über andere Menschen. Vermutete Abwertungen unseres Selbst. Neu anfangen. Eine zweite Chance geben. Die wünsche ich mir selbst und die möchte ich geben. Wer weiß wie viele Beziehungen gestiftet oder gekittet werden könnten, Freundschaften, kollegiales Miteinander, wenn wir wirklich vom anderen wüssten, was er/sie von uns hält? Und wir dann entdecken, dass der andere gar nicht denkt: "Ist die doof.", sondern uns heimlich bewundert, mag, interessant findet ....

Es gibt immer wieder Neues auf dieser Welt zu lernen. Jetzt habe ich meine monatelangen philosophischen Gedanken endlich mal zu Papier gebracht. *Hüpf*

Einen schönen Maitag!

Ihre Anja Kolberg

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Erstellt durch: Anja Kolberg am Mittwoch, 04 Mai, 2016
Thema: Blog - 2016, 1. Halbjahr, Blog - Psychologie
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